Große Ereignisse warfen an diesem kühlem und regnerischen Herbsttag im zweiten Jahr der Ära des Guǎngshùn-Kaisers in der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt Kaifeng ihre Schatten voraus. Das Volk auf den Straßen war in sichtbare Aufregung verfallen, der Hof des Drachen befand sich in dauerndem, lauten Trubel, viele Soldaten zogen auf und marschierten umher. Auch die hohe Fürsten Zhēnzhēn verspürte eine innerliche Erregung, während sie sich in ihren Gemächern unweit der Wohnstätte des kaiserlichen Harems im Palast auf ein großes Ereignis im Thronsaal, dem Sitz des Himmelssohnes, vorbereitete. Der ganze Hof und vor allem der Diwan würden sich dort versammeln und die hohe Fürsten als Tochter des Kaisers würde an diesem heutigen Tag nicht fehlen dürfen. Nachdem sie sich ihre nobelsten und prachtvollsten Kleider angelegt hatte, wurde die Fürstin von einigen Eunuchen und Soldaten zu ihrer
Sänfte begleitet. Beschirmt vor den Ergüssen des Himmels setzte sich der ganze Zug mit ihr in Bewegung Richtung
Haupthalle des kaiserlichen Palastes. Als man den großen Platz davor querte, kam man an einer riesigen Ansammlung von Soldaten und Offizieren vorbei, die alle stramm standen, aber sich beim Anblick der Prinzessin hingebungsvoll in den teils feuchten und matschigen Boden warfen. Die hohe Fürstin Zhēnzhēn genoss den Anblick der demütigen Huldigungen dieser Soldaten außerordentlich. Sie würden hier draußen wohl nach eine ganze Weile stramm stehen müssen, ehe die Versammlung im Thronsaal endete.
Im Gegensatz zum einfachen Volk wusste die hohe Fürstin genau, was heute in der Versammlung bekannt gegeben würde, hatte sie doch zuvor zahllose Gespräche mit ihrem Vater, dem Kaiser, geführt. Für alle jedoch war ersichtlich: Das Kaiserreich mobilisierte seine Truppen. Auch der Rat und die höchsten Beamten des Kaisers waren darüber informiert. Der Guǎngshùn-Kaiser strebte eine Politik der Wiedervereinigung Chinas an, das unter den vielen Warlords, vor allem im Süden, stark gelitten hatte. Die Zhōu Dynastie im Norden war das stabilste und beständigste Reich und als Herrscher dieses Reiches konnte ihr Vater den Anspruch ableiten, als Sohn des Himmels über ganz China zu herrschen. Dies konnte jedoch nicht einfach in einem schnellen Schlag erfolgen. Der Kaiser und sein Rat, zu dem auch die Prinzessin gehörte, hatten daher beschlossen, einen Kriegszug gegen die nördliche
Han-Dynastie zu unternehmen und ihr Territorium sowie das der losen Anrainerstaaten zu annektieren und die Expansion bis zu den Bauwerken der großen Mauer im Norden zu treiben, ehe man sich der rivalisierenden Fürsten im Süden annehmen würde. Was jedoch bisher unter Verschluss gehalten wurde war die Tatsache, dass ihr Vater höchstselbst die Truppen in diese Unternehmung führen würde. Die hohe Fürstin war jedoch nicht verwundert über diese Entscheidung, denn der Kaiser galt als fähiger Kriegsherr und Stratege, der die Moral seiner Männer dazu erheblich anspornen konnte. Da Zhēnzhēn der einzige noch lebende, direkte Abkömmling der kaiserlichen Guō- Familie war und demnach auch voraussichtliche Erbin auf den Drachenthron und Vertraute ihres Vaters, würde derselbe sie während seiner Abwesenheit mit der Regentschaft über die inneren Angelegenheiten des Reiches in Kaifeng betrauen. Dies würde neben der feierlichen Kriegserklärung heute verkündet werden. Einzig die Tatsache, dass ihr Vater auch einige Haremsdamen während der militärischen Kampagne mit sich nehmen würde, verstimmte die Prinzessin, die eifersüchtig und missgünstig auf jeden Versuch blickte, ihre Stellung durch einen neuen kaiserlichen Erben zu beschneiden. Grundsätzlich misstraute sie den konkurrierenden Nebenfrauen ihres Vaters, aber da bisher auch schon kein neuer kaiserlicher Nachwuchs aus diesen Verbindungen entsprungen war, hielten sich ihre Befürchtungen dann doch in Grenzen.
Als die Prinzessin sodann im Thronsaal eintraf und mittig auf ihren auf dem
Drachenthron sitzenden Vater zuschritt, fand sie zu ihrer Linken und Rechten schon alle hohen Beamten und Militärs des Reiches vor: Den Kanzler und seine Stellvertreter, den hohen kaiserlichen Geheimsekretär und seine Untersekretäre sowie den Direktor und die stellvertretenden Direktoren des großen Staatssekretariats mit seinen sechs Ministern für Beamte, Finanzen, rituelle Opferungen, Krieg, Justiz und öffentliche Arbeiten; daneben dann noch eine ganze Reihe Generale. Alle vollzogen sodann den Kotau vor der Prinzessin, die daraufhin ihren Vater durch eine Kniebeuge begrüßte und auf einem kleineren Thron neben dem seinen Platz nahm.